12. Station: 2 Robinien
„Zähringer Hof“ (Wollmatinger Str.)
Mats und Mara sprechen das Zauberwort und kehren heim.
Es ist ein stiller Abend. Leicht streichelt der Wind die silbrigen Blütenkaskaden der Robinien. Mats und Mara sehen sich um: dunkel stehen, von Straßenlaternen beleuchtet, die grauen geraden Wände des neu gebauten Wohnblocks um sie herum. Viele Leute wohnen hier, und es sieht adrett und ordentlich aus. Bänke, frisch gepflanzte Bäumchen in Kübeln, ein kleiner Spielplatz. Ach, denkt Mara, wie langweilig, da gibt es ja kaum Ecken, in denen man sich verstecken kann. Oder etwas suchen, was vielleicht da ist. Vielleicht aber auch nicht.
Etwas Feuchtes stupst sie an. Erschrocken dreht sie sich um und
sieht die Kröte auf dem Weg sitzen. Die kennt sie doch gleich
wieder. Das ist nicht irgendeine Kröte! Das ist die Kröte ganz vom
Anfang ihrer Geschichte, die Kröte, die sie getroffen haben, als sie
gerade in der Stadt ankamen und später, im Erdboden, als sie den
Atem der Erde gespürt haben. Puh! Wie lang mochte das her sein? Mara
grübelt.
„Ach“, rollt dunkel gurgelnd die Krötenstimme, „das fühlt sich
länger an, als es war. Es waren nur ein paar Tage. Und ich glaube,
Ihr seid der Lösung nahe gekommen. Zeigt mal, wieviele Buchstaben
ihr schon gesammelt habt?“
Umständlich zieht Mats die gerollten Blätter aus seinem Rucksack,
sorgfältig rollt er eines nach dem anderen aus, bis schließlich alle
nebeneinander liegen.
„Da sind sie.“
„Das sind alle?“ fragt die Kröte.
„Ja“ nicken Mats und Mara.
„Na, dann versucht doch mal ein Wort zu bilden.“
Angestrengt schieben die Wurzelwichte die Buchstabenblätter hin und
her.
„Das ist soooo schwer“, mault Mats.
„Ach“, sagt seine große Schwester, „das schaffen wir schon. Hier:
RIZE DEN WUL
„Ritze den Wul??? Was soll das denn heißen? Außerdem, das weiß ja
sogar ich, schreibt man „ritze“ mit T und ein T haben wir nicht.“
„Ah! Dann fehlt noch ein Buchstabe! Kröte, Kröte, wir brauchen noch
ein 'T'!“
Die Kröte guckt etwas unwirsch auf die Buchstabenfolge und wendet
sich kopfschüttelnd ab.
„Was soll denn ein 'Wul' sein?“
„Ja, das weiß ich doch nicht! Irgendetwas Magisches! Schließlich
geht es doch um eine magische Reise.“
„Und dafür musst Du einen 'Wul' ritzen?“ Mats runzelt die Stirn.
„Naja, warum nicht. Denk' doch mal nach! Vielleicht ist es eine
seltene Pflanze, ein Wul, das man schon seit Urzeiten geritzt hat,
um magisch zu reisen oder durch die Lüfte zu fliegen.“
Mara lässt ihre Stimme ganz tief und schauerlich klingen:
„RIIITZE DEEEN WUUUUL!!!!“ Nichts passiert. Mara ist irgendwie
enttäuscht.
„Naja, da müssen wir dann halt den Wul finden und ihn ritzen und
dann nach Hause fliegen.“
„Arrgh“, grunzt die Kröte ärgerlich.
„Wer hat Dir nur soviel Unsinn in den Kopf gesetzt?!“
„Was heißt denn hier Unsinn?“ Beide Wurzelwichte sind erstaunt und
lassen gleichzeitig die Kinnläden fallen.
„Erstens macht das Spaß und ist schon deshalb kein Unsinn. Und
zweitens ...“
„Und zweitens“, fällt Mats ein, „heißt das WINDEL!“
„Windel?“
„Ja, Windel, jetzt hast Du's!“
„Aber dann bleiben ja haufenweise Buchstaben übrig: R, Z, E und U
...!“
„Nun“, meint Mats überlegen,
„Du hast doch gesagt, es fehlt vielleicht noch ein Buchstabe. Und
einen haben wir noch gar nicht verwendet. Nämlich das K!“
„Oh!“ Mara lächelt verlegen. Es ist ihr peinlich, dass ihr kleiner
Bruder einen Fehler bemerkt hat. Aber er hat recht.
„Na?!“
„Ja, Du hast recht.“
„Siehst Du – mit dem K brauchen wir gar keinen weiteren Buchstaben
mehr. Dann heißt unser Wort nämlich KURZE WINDEL!“
Triumphierend verschränkt Mats die Arme vor der Brust.
„Ist das Dein Ernst?“ fragt Mara.
„Und ob das mein Ernst ist. Kurze Windel – das ist es, das muss es
sein.“
„Ein komisches Zauberwort.“
„Und eigentlich“, mischt sich die Kröte ein, „eigentlich sind das
auch zwei Wörter und nicht eins. Ich kann mir beim besten Willen
nicht vorstellen, dass das Zauberwort, das Euch in den Wald
zurückführen soll, ausgerechnet 'Kurze Windel' heißen soll.“
„Warum denn nicht? Probieren wir es aus“, Mats reckt die Arme
beschwörend in die Luft:
„KUUURZEEE WIIIINDEEEEL!“ Erst nichts. Dann plötzlich tönt ein
kleiner Wind. Er klingt wie ein Pups. Ein bisschen stinkt er auch.
Mara kann das Lachen nicht unterdrücken, und auch die Kröte
schmunzelt.
„Nun“, meint sie und legt begütigend die Hand auf Mats' Schultern,
der ein wenig rot geworden ist, aber auch lachen muss, „vielleicht
solltet ihr es noch einmal versuchen.“
Mats und Mara lassen sich auf die Erde fallen. Nicht einfach.
„Kinder pupsen“, sagt Mara auf einmal. Mats schaut sie verwundert
an:
„Äh – ja ... und Hunde und Erwachsene und Kröten ...“ Die Kröte
guckt streng.
„Ist doch wahr!“ verteidigt sich Mats. Mara lässt sich nicht
beirren:
„Wir wollen in den Wald. Im Wald gibt es Wurzeln. Und das Wort
'Wurzel' lässt sich aus unseren Buchstaben bilden. Und 'Kind' auch.“
„Ja, und dann hast Du ein 'E' übrig. Wurzelkind EEEE!“
„Nun“, meint Mara, “oder ein 'R' zuwenig! Wurzelkinder! Was meint
Ihr? Für mich klingt das gut!“
„Ja“, meint Mats, „das könnte es sein.
„Aber ja, das muss es einfach sein! Wir sitzen hier doch unter einer
Robinie. Und bisher haben uns die Bäume immer einen Buchstaben
mitgegeben.“ Die Robinie rauscht.
„Ein R“, flüstert sie noch schlaftrunken, „könnt Ihr gern von mir
haben. Ein R fehlt Euch bestimmt.“ Die Kröte lächelt. Die Robinie
schläft wieder ein. Sanft schaukelt ein Blatt in Mats' Schoß. Er
nimmt es, streicht es glatt und Mara schreibt ein 'R' darauf:
WURZELKINDER
Das muss die Lösung sein!
Tief schaut die Kröte sie aus goldenen Augen an.
„Seid Ihr bereit?“
„Ja“, kaum können sie es aussprechen, ein Kloß steckt ihnen im Hals.
Sie sind so aufgeregt und doch so verwirrt. Nun sind sie dort
angekommen, wo sie immer hinwollten: ans Ende der Geschichte,
dorthin, wo sie zurückkehren sollen an ihren Anfang, in den Wald.
„Schaut mich an.“ Die Stimme der Kröte erscheint noch dunkler, noch
älter als zuvor. Und in dem Augenblick, als sie zu sprechen beginnt,
gehen die Lichter aus. Die Straßenlaternen erlöschen und auch in den
Häusern wird es dunkel. Vereinzelt und wie von sehr, sehr weit
entfernt hört man einen Menschen fluchen. Ist das ein Stromausfall?
Merkwürdig. Die Wolken geben den vollen Mond frei. Sein sanftes
Licht flutet über den silbrigen Regen der Robinienblüten und es
scheint, als seien sie alle von geschickten Schmieden aus hellem
Metall gemacht, eine kunstvoller als die andere. Das ist kein
menschengemachter Park mehr, so will es den Wichten erscheinen. Das
ist wie ein Schloss, eine Erscheinung aus einer anderen Welt.
Dunkler Glanz scheint auch aus den goldenen Augen der Kröte, die
tief geworden sind wie Brunnen. Mats und Mara ist ein wenig
unheimlich. Aber die Kröte lächelt sie sanft und verständnisvoll
an.
„Nun“, sagt sie, „ruft die Mutter. Sie möge Euch nach Hause holen.“
Mats versucht zu sprechen, doch irgendwie kommt kein Laut über seine
Lippen, nur ein leises Pfeifen. Mara aber hält die Augen
geschlossen. Aus ihrem Mund kommen Worte, die jemand anderes gedacht
zu haben scheint.
Gaia! Mutter Gaia,
Wir wissen das Wort.
Gaia! Mutter Gaia,
Bring uns von hier fort.
Lang waren wir weg,
Jetzt wollen wir heim.
„Wurzelkinder“
Das soll unsere Losung sein.
Wurzelkinder
Das ist das Wort
Es führe uns an einen anderen Ort.
Heim in den Wald soll es uns bringen
Heim unter Bäume, in denen die Vögel singen.
Heim zu Fuchs und Uhu
Heim bring uns bitte
Ganz schnell, jetzt, im Nu!
Und noch ehe die Wichte sich's versehen, fallen sie in einen tiefen Schlaf, so tief, wie ihn selbst die unsichtbaren Wesen des Waldes kaum kennen. Ein Märchenschlaf – und der kann 1000 Jahre dauern oder grad so lange, wie die Augenlider brauchen, sich zu schließen und gleich darauf wieder zu öffnen.
Als ihre Lider sich wieder öffnen, liegen sie zwischen Buschwindröschen und Sauerklee im Wald unter einer Ehrfurcht gebietenden Buche. Verwundert blicken sie sich um. Wie sind sie hierher gekommen? Der Wind trägt ihnen mit Begeisterung gesungene Liedzeilen zu:
Wir sind die Wurzelkinder
Und haben einen Wald
Wir spielen immer draußen
Egal, ob warm, ob kalt ...
Noch bevor sie sich fragen können, gluckst neben ihnen eine dunkle,
wohlbekannte Stimme:
„Die Wurzelkinder. Ja, die gibt es wirklich. Das wolltet Ihr doch
fragen.“ Da erinnern sich Mats und Mara plötzlich an die beiden
Schreiberlinge bei der Magnolie, die ihre Geschichte aufgeschrieben
haben - für die Wurzelkinder, die ihren Kindergarten im Wald und
nicht in der Stadt haben.
Die Kröte lacht (auch wenn das sehr merkwürdig anzusehen ist – eine
lachende Kröte. So richtig verstehen können wohl nur andere Kröten
ein Krötenlachen, aber das wiederum kann den Kröten ja egal sein).
„Du bist ja auch hier!“
„Ja sicher bin ich hier. Wo sollte ich sonst sein?“
Ja, wo sonst? Mara streckt die Arme und Beine aus und blinzelt in
die hellen Sonnenstrahlen, die das luftig grüne Blattwerk des
Frühlingswaldes durchdringen. Oben in den Ästen ruft der Eichelhäher
zur Begrüßung. Hier sind wir zuhause! Sie schaut die kräftigen Äste
der Buche an, die sich über ihr zu einer mächtigen Krone verbinden.
Ja, ja – hier sind sie zuhause und nirgends sonst. Und die Buche
würde ihr neuer Schlafbaum werden. Das ist mal sicher.